Kommentar | René Knöpfel

Bild und Begriff

Die Malerin selber nennt es “eine Suche - und Sucht”. Als Prozess des Sehen-Lernens liesse sich Maes Kunst auch beschreiben. Sie lässt uns an ihrem eigenen Sehen-Lernen, am “Erarbeiten” teilhaben, sich dabei über die Schulter schauen. Gleichzeitig bezeichnet sie den Vorgang als “grundsätzlich nicht planend vorhersehbar”, als “Abenteuer” mit ungewissem Ausgang.

Bilder sind Täuschungen. Wir lassen uns auf sie ein, wohlwissend, dass sie - nüchtern betrachtet - bloss aus Leinwand und Farbe bestehen. Kunst ereignet sich im Auge und im Kopf des Betrachters und schöpft sich aus Prozessen, die Laien oft als eine Art Wunder auffassen. In diesen Empfindungen eines Geheimnischarakters steckt eine romantische Vorstellung von Kunst, die seit der Erfindung der Fotografie etliches an Zauber eingebüsst hat. Die “Kunst an sich”, das handwerkliche Können, die naturgetreue Darstellung sind uns selbstverständlich und schal geworden. Gleichzeitig sind wir unablässig auf der Suche nach neuen und ungewohnten Signalen für unsere reizüberfluteten Rezeptoren, sucht-artig und art-süchtig, abhängig von immer raffinierteren, die Sinne verklebenden Substanzen.

Die Malerei hat sich entsprechend auf neue Wege begeben, auf die Suche nach einem anderen oder “eigentlichen” Sehen, denn inzwischen ist auch klar, was Philosophen und Anthropologen schon lange wissen: der Mensch “sieht” nicht, was er zu sehen glaubt. Die Wirklichkeit liegt nicht vor uns wie ein randscharfes Foto, wie sich unschwer im Selbstversuch erkennen lässt: Unschärfen trüben unseren Blick. Aus kaum bestimmbaren Fragmenten und Mustern stückelt sich unsere Wahr-Nehmung zusammen, bestimmt durch den dominierenden Apparat unseres Denkens, der die Eindrücke auf vertraute Muster untersucht und sie gedankenschnell einordnet, mit Namen und Begriffen versieht, die das eigentliche Bild sinngebend überlagern - und verschütten. Wir lesen die Wirklichkeit, statt sie zu sehen. Dabei verfügen wir über ein höchst beschränktes Alphabet an Zeichen und Symbolen zur Entschlüsselung unserer bildlichen Wahrnehmungen.

Dieser angelernten Art oder Kulturtechnik des Sehens pflegen Kinder ein Schnippchen zu schlagen, indem sie ihren Blick in Muster beliebiger Oberflächen, Textilien, Lichtreflexe, Wolken versenken oder durch Blinzeln, den Blick durch geschlossene Wimpern, intensives Augenreiben und “Augenkino” etc. sich auf die Suche nach den Bildern jenseits der Sprache begeben. Ein lustvolles Abenteuer des Sehens, dem sich Erwachsene - ganz der rationalen Bilderkennung oder -dechiffrierung verpflichtet - nur ausnahmsweise hingeben - es sei denn, sie wären Künstler, die in solchen Bildwelten ihr Rohmaterial entdecken, die Quelle oder den begrifflosen, reinen Urstoff der Imagination.

Die Begrifflichkeit, das vorschnelle Begreifen zählen denn auch zu den Feinden des “eigentlichen” Sehens. Mae nimmt oft eher verwundert zur Kenntnis, was die Betrachter in ihren Bildern “lesen”. Bilder die zur Interpretation herausfordern und sich ihr gleichzeitig entziehen. Eine Besessene des “eigentlichen” Sehens, nicht Medium, eher Werkzeug eines unvoreingenommenen Entdeckungsprozesses, lässt Mae uns malend sehen, was unseren Augen verborgen bliebe. Die Sehblockaden des (vor)urteilenden Verstandes und seiner einengenden Vorstellungen lösen sich. Bilder und Anschauungen befreien sich von ihrer begrifflichen Domestikation. Wenn sie etwa industrielle Texturen des bearbeiteten Untergrundes gleichberechtigt neben frei gemalten Formen hervortreten lässt, oder aus Farbgewölk Strukturen und geometrische Formen herausarbeitet, die sich ihr dort zunächst unscheinbar und wie zufällig offenbaren. Mae arbeitet das Bild aus dem reichlich vorhandenen Material wie ein Bildhauer die Figur aus einem Steinblock. Es ist schon da. Was sich bei der  Bildrezeption als dunkles Geheimnis oder Transzendenz einstellt, entspringt nicht einer “kryptisierenden” Absicht der Malerin. Ihre Arbeit besteht eher im Weglassen als im Beifügen, im geduldigen Freilegen, in der Zähmung eines oberflächlichen, begrifflichen Gestaltungs- und Deutungsdrangs.

Maes Bilder entziehen sich der Zuordnung in eine abstrakte oder eine gegenständliche Schule. Das Spiel mit dieser Ambivalenz - die Abstraktion des Natürlichen, die Natur der Abstraktion - ist, was sie uns als Pfad durch das Unterholz des Sehens (vor)schlägt und begehbar macht. Der Betrachter, von begrifflicher Deutung befreit, folgt ihr durch den Dschungel der Erscheinungsformen, je nach Temperament überrascht oder fasziniert über die zurückgewonnene und unvoreingenommene Anschauung. Das beständige Hinterfragen des eigenen Tuns, Beharrlichkeit und Selbsteinschränkung in der Ausführung, einzelne Werktitel, deren Inhalte und Sprache, und der rote, an japanische Vorbilder mahnende, kalligraphische Stempel in Maes Bildern deuten auf eine intuitive oder bewusste Annäherung an ein Zen-buddhistisches Selbstverständnis. Nicht im Sinn einer religiösen Mission - Zen hat weder Lehre noch Ziel anzubieten - aber hinsichtlich der “vollständigen Achtsamkeit ohne eigene urteilende Beteiligung” der “Unabhängigkeit von Wort und Schriftzeichen”, der “Aufhebung der Trennung von Innenwelt und Aussenwelt” und der “Aufhebung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes” - um ein paar Zen-Leitsätze aufzuführen.
„Den Weg zu studieren heisst sich selbst zu studieren, sich selbst zu studieren heisst sich selbst vergessen. Sich selbst zu vergessen bedeutet eins zu werden mit allen Existenzen.“ (Eihei Dÿgen Kigen)

Maes Bilder sind umso berührender, weil sich in ihnen der Blick eines freien Geistes zeigt, der sich unmittelbar und über alle Schranken individueller Betrachtungen hinweg mitzuteilen versteht. Wie sie dabei neben dem objektartig zu Tage tretenden auch dem Imaginären und Nicht-Sichtbaren Platz einräumt, zählt zu den erstaunlichsten Erfahrungen bei der Begegnung mit ihrer Kunst.

René Knöpfel, Publizist, Tutzing (Deutschland)