Kommentar | Werner Wüthrich

Wie Nadelstiche in die Tiefe der eigenen Bilder

Die Bilder von Mae brauchen unseren zweiten Blick. Mindestens. Sie täuschen nicht Natur vor und sind keine einfachen Veduten. Die Malerin, seit 1978 freischaffend, gibt ihre Aussagen und Bildsujets nicht für die Wirklichkeit selber aus. Jedes ihrer Bilder enthält beim längeren Betrachten ständig neue Anregungen, doch keine einzige Arbeit ist für mich ein Trugbild. Aber die gezeichneten und grossformatig gemalten Werke sind gleichzeitig auch Darstellungen, da besteht kein Zweifel. Und Darstellungen sind doch Abbildungen. Was genau denn sind die Bildthemen, die hier mit grosser Sicherheit in der Strich- und Pinselführung dargestellt werden? Was sind die eigentlichen Sujets und Inhalte? Hinter dieses Geheimnis möchte ein Bildbetrachter kommen –

Zu Recht wurde schon bei ihren ersten Ausstellungen und in zahlreichen weiteren Besprechungen bemerkt, dass der Ursprung ihrer Inspiration stets die Natur sei, was die Malerin als Ausgangspunkt auch gar nicht bestreitet. Bereits in den frühen Achtziger Jahren fand Mae zu einer ganz eigenen, unverwechselbaren Mischtechnik mit aufgelöstem Ölpastell, Acryl, Faber Castell, Tusche und Schiefer- und Kohlestifte, um ihren Bildern – oft in Hell-Dunkel-Kontrasten – eine Dimension von Tiefe zu geben. Von einem Oszilieren zwischen Oberfläche und dem Eigentlichen, das sich hinter dem Sichtbaren oft erahnen und nicht fassen lässt. So fühlt sich der Bildbetrachter wie die Malerin selber „in der Dunkelheit der Farbe“ aufgehoben.

Die Bilder von Mae sind still und leise, aber äussert präzis mit all den Zacken, Kanten und Konturen. Sie scheinen vordergründig leicht. Sie kommen mir vor wie ein Gebirge, das im Dämmerlicht grad sein unendliches Gewicht verliert. Diese Kunst bewundere ich. Denn nicht das Grelle und Laute – sei es im Film, auf dem Theater wie beim Malen oder Schreiben – ist in der Darstellung etwas vom Schwierigsten, sondern vor allem die Leichtigkeit des Daseins. Auf einem Blatt Papier durch viele Schichten und Farbschichtungen das Leichte, das Schwebende, das Transzendente herzustellen. Das Transzendentale, das Mehrschichtige, das Hintergründige. Vielmehr, und speziell im bildnerischen Werk von Mae, das Untergründige. Was bekanntlich stets mit unserer Vergänglichkeit zu tun hat. Mit rötlich-schwarzer Magma oder grau-weiss erstarrtem Berg. Mit Herbst und Frühling. Mit Aggregatszuständen des Seins, dem Vergehen und Werden. Noch mehr, denke ich, müssen Bilder von sich nicht preisgeben, denn die Bilder von Mae behalten ihre letzten Geheimnisse. Beharrlich, in sich ruhend und leise. Sie sind so gänzlich wider die Zeit entstanden. Haben keinen Hauch von Modischem, gar nichts Marktschreierisches. Sie zeigen unter der Oberfläche und hinter den Fassaden bloss das Eigentliche. Selbst wenn ich – vordergründig – das eine Mal auf einem Bild eine Pflanze mit einigen Blüten vermute und das andere Mal glaube Geröll, Steine oder Baumäste und Strandgut erkennen zu können. Auf diese Weise thematisieren die Bilder für mich Schritt um Schritt das Nicht-Darstellbare. All das nämlich, was – in welcher Kunstsparte auch immer – dem flüchtigen Augen-Blick verborgen bleibt. Anscheinend, bei einer abgefilmten Berglandschaft und bei einem fotografierten Stilleben.

Aber die Bilder der Mae sind auch eine Provokation. Denn sie fordern ununterbrochen den Betrachter heraus, seine Beziehung von Sichtbarem und Unsichtbaren für sich noch einmal neu zu bestimmen. Oder das, was beim Schreiben und Lesen auf einer Zeile, im Wort selber, und was – als viel wesentlicher oft – zwischen den Zeilen steht. So malt die Künstlerin permanent auch Aufforderungen, die gespeicherten Bilder von der Welt zu überdenken. Genauer gesagt: Sie erzeugen Lust, die eingerahmten und festgebrannten Bilder in meinem Kopfinnern, die im Rechen der Erinnerung hängen geblieben sind, noch einmal, aus anderer Perspektive, zu  betrachten. Um zu überprüfen, ob eine Landschaft oder bloss ein Blütenblatt nicht doch vielmehr etwas darstellt, das mir entgangen ist. Eine Dimension gar, die mir bis anhin nicht zugänglich war. In der Tat, die Kreide- und Pinselstriche der Mae sind Nadelstiche, die in die Tiefe der eigenen Bilder gehen. Mae lässt offen, was wir als Betrachter damit machen. Alles, was Erklärung bräuchte, ist für die Malerin nicht von Interesse.

Die Bilder von Mae erheischen einen zweiten, dritten, ja, vielleicht sogar einen vierten Blick, da diese dem Bildbetrachter stets nur ein näheres Hinsehen abverlangen möchten. Vor allem, ein genaueres Hinschauen, um nach und nach etwas zu erahnen: Ein Dahinter, das nicht mit Worten zu beschreiben ist und auch gar nie in Worte zu fassen wäre. Denn bei dem Thema – da bin ich mir sicher – muss die Sprache versagen. Dafür ist einzig die Malerei zuständig – das Bild.

Werner Wüthrich

Werner Wüthrich, 1947 in Ittigen bei Bern geboren, studierte an der Universität Wien Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie. Theaterarbeit. Lehrbeauftragter, Dozent von Schreib-Werkstätten und Produktionsdramaturg. Seit 1970 Theaterautor und freiberuflicher Schriftsteller. Internationale Auszeichnungen und verschiedene Preise. Doron-Preisträger 2004. Werner Wüthrich ist auch als Exil- und Brecht-Forscher bekannt geworden.