Kommentar | Georg Eisner

Wahrnehmung

Unser visuelles System „Auge → Gehirn → Ich“ schafft aus Chaos Ordnung. Was als Bild, in der Form physikalischer Energiequanten, aus unserer Umwelt ins Auge gelangt, ist wertfrei und im Prinzip chaotisch. Im Gehirn wird es dann in, ebenfalls wertfreie, elektrochemische Signale gewandelt und stufenweise über mehrere Nervenbahnen geordnet. Erst in unserem ICH (das sich der naturwissenschaftlichen Betrachtung entzieht) jedoch erhält das Signalgemenge eine Wertung.Wenn die natürliche physikalische Umwelt, die das visuelle System uns übermittelt, grundsätzlich wertneutral ist, so gilt das nicht für Werke der Kunst. Hier geben Künstler Werte vor, von denen sie erwarten, dass sie am Ende der visuellen Verarbeitungswege wiederum als Werte übernommen werden. Zwischen dem Kunstwerk und seiner Wahrnehmung im ICH stehen die physiologischen Abläufe im Gehirn, deren Gesetzmässigkeiten die Kunstschaffenden bei ihrer Gestaltung bewusst oder unbewusst ausnützen. Dies ist das Thema der folgenden Ausführungen. Bei der Suche nach Ordnung benutzt das Gehirn Prozesse, die man – vereinfachend - als Programme bezeichnen könnte. Bildmotive, die mit diesen programmierten Strukturen nicht von vornherein übereinstimmen, stimulieren zu ihrer Einordnung zusätzliche Programmschritte und steigern dadurch die Hirnaktivität. Sie sind für das ICH auffällig und werden in der Kunst als „lebendig“ empfunden.Gewiss ist das Wissen um all diese Prozesse keine Voraussetzung, um Kunstwerke auf uns einwirken zu lassen. Wenn man sich jedoch für die Gestaltungsprozesse von Kunstschaffenden interessiert, ist nicht nur die Verwendung von Farbmaterialien (physikalische Daten), sondern auch die Kenntnis der visuellen Verarbeitungsprozesse (physiologisch-psychologische Daten), die sie - bewusst oder unbewusst – anregen, von Bedeutung.Dazu einige Beispiele aus den Werken von Mae.

Kontrast

Ein eindrückliches Beispiel für die Bedeutung der Hirnaktivität beim Erschaffen und Betrachten von Bildern sind die Kontrastphänomene. Wenn wir die Welt, die wegen optischer Mängel unserer Augen auf der Netzhaut nur unscharf wiedergegeben wird, gleichwohl scharf sehen, so beruht dies auf der Signalverarbeitung im Gehirn, welche Farb- und Helligkeitsunterschiede zwischen benachbarten Flächen verstärkt und übertreibt. Das Bedürfnis nach Ordnung zwingt unser Ich, in Bildern mit Flächen von ebenmässiger Tönung Kontraste zu suchen, wo sie nicht vorkommen, ja diese dort mit “geistigem Auge” geradezu hinein zu konstruieren. Deshalb wirkt, entgegen unseren Erwartungen, auch Kontrastarmes spannend und lebendig. Die Phänomene lassen sich zusätzlich mit künstlerischen Mitteln verstärken, indem man den kontrastarmen Flächen auf geschickte Weise Elemente mit scharfen Konturen gegenüberstellt.Meisterwerke auf diesem Gebiet finden wir vor allem in der ostasiatischen Tuschmalerei. Es ist gewiss kein Zufall, dass Mae ihre Bilder mit entsprechenden Stempeln signiert.

Farbe

Rot ist von allen Farben die aufregendste. Man könnte deshalb annehmen, dass die Zellen in der Netzhaut des Auges, die man als Rotrezeptoren bezeichnet, für rotes Licht am empfindlichsten sind, und dass bereits wenige Lichtquanten eine intensive Rotempfindung auszulösen vermögen. Im Gegensatz zu solchen Erwartungen sprechen jedoch die Rotrezeptoren auf reines Rot nur wenig an, denn das Maximum ihrer Empfindlichkeit liegt im Orangebereich. Der Eindruck von intensivem Rot entsteht deshalb erst nach einer Verstärkung der eintreffenden Signale durch das visuelle System und ist somit das Resultat einer gesteigerten Hirnaktivität. Dies könnte die herausragende Stellung von Rot im sichtbaren Farbspektrum erklären.

Schwarz und Weiss nehmen in unserem Farbensinn eine Sonderstellung ein. Sie erscheinen als gesättigte Farben, und man würde deshalb erwarten, dass in der Netzhaut für sie spezifische, leicht anklickbare Rezeptoren existieren. Allein, dies ist nicht der Fall.Sowohl Schwarz als auch Weiss sind komplizierte Gemische. Sie entstehen durch Interaktionen vieler verschiedener Rezeptoren und übergeordneter Schaltstationen, und auch sie sind das Resultat hoher Hirnaktivität. Zwar erscheinen uns Schwarz und Weiss wie andere reine Farben, aber unbewusst drücken wir die unterschiedliche Empfindung in der Wortwahl aus und sprechen von unbunten oder achromatischen (=farblosen) Farben. Ihre Sonderstellung zeigt sich auch darin, dass sie sich hinsichtlich der Simultan- und Sukzessivkontraste wie Gegenfarben verhalten, ansonsten sich jedoch von den bunten Gegenfarben Rot-Grün und Blau-Gelb unterscheiden. Die letzteren verändern beim Mischen ihren eigenen Farbcharakter: Blau und Gelb z.B. werden beim Mischen von farbigen Lichtern zu Weiss („additive Mischung“), beim Mischen von farbigen Pigmenten zu Grün („subtraktive Mischung“). Andere Typen von Farbmischungen führen zu entsättigten blassen, oder zu unreinen „schmutzigen“ Farbtönen. Mischungen von Schwarz und Weiss ergeben hingegen eine Farbskala von Grautönen, die wir zwar heller oder dunkler, stets aber als gesättigt und rein empfinden. Dank dieser Eigenschaften lassen sich im Schwarz-Weissbereich unendlich feine Nuancen erzielen und dank der damit verbundenen hohen Hirnaktivität wirken solche Bilder weit lebendiger, als man auf Anhieb erwarten möchte. Durch den Verzicht auf jede Ablenkung durch bunte Farbphänomene können Kunstschaffende Effekte erzielen, die subjektiv als „Konzentration auf das Wesentliche“ imponieren.Interessanterweise wird die Sonderstellung der hier beschriebenen drei Farben von den Völkern mancher Kulturen intuitiv erfasst und in ihrem Wortgebrauch dokumentiert: In Sprachstudien zeigte das einfachste Farbvokabular nur zwei Farbbegriffe, Weiss und Schwarz. In Japan, z.B. waren vor Einbezug westlicher Begriffe Schwarz und Weiss Hauptfarben, und Schwarz-Weiss-Fotografie hiess Zweifarbenfotografie (Farbige Fotos waren „natürliche“ Fotos). In Sprachen mit drei Farbbegriffen, z.B. in Polynesien, war die dritte Farbe Rot. Ganz offensichtlich ist unsere Wahrnehmung stark kulturell geprägt. Auch auf diesen Bezug zu ostasiatischer Kultur mag der Signaturstempel in den Bildern von Mae hindeuten.

Bewegung

Die Steuerungsprozesse des Bewegungssehens sind äusserst komplex. Wenn sich das Bild, das die Umwelt in unseren Augen entwirft, auf der Netzhaut bewegt, muss das visuelle System analysieren, welchem realen Vorgang dies zuzuordnen ist: Bewegen sich die Umgebung, unser Körper oder unsere Augen? Die Interpretation beruht auf Rückmeldungen der Steuerung von Körper- und Augenmuskulatur, auf Grund derer das Gehirn stets weiss, welche Muskeln sich bewegen.Beim Betrachten eines Bildes spielt es deshalb für unser Empfinden eine Rolle, ob die Augen stille stehen, ob sie sich suchend bewegen oder ob der ganze Kopf gewendet wird, denn das Gehirn wird jeweils verschieden aktiviert. Miniaturen wirken anders als Grossformate, und diese wiederum anders als monumentale Wandgemälde. Wenn wir ein grosses Bild aus der Nähe betrachten und seine ganze Fläche durch Augenbewegungen absuchen, empfinden wir es anders als aus grosser Distanz, wo es die Augen als Ganzes erfassen können, ohne sich bewegen zu müssen.Mae hat in ihren Bildern aus all den genannten Phänomenen kräftige Spannungen aufgebaut, indem sie in einigen Bereichen die Augen anregt, vorgegebenen kontrastreichen Leitlinien zu folgen, in kontrastarmen Flächen hingegen sich ziellos suchend zu bewegen – in stetigem Wechsel jeweils andere Rückmeldungen im visuellen System provozierend.In den Abbildungen des Katalogs - Miniaturen vergleichbar – ist dies allerdings nur zu erahnen. Ihren vollen Zauber enthüllen die Bilder von Mae erst im Original.

Georg Eisner

Prof. Dr. med. Georg Eisner war Chefarzt an der Universitätsaugenklinik, Inselspital, Bern. Er hat während seiner Amtszeit Bücher und elektronische Medien über Untersuchungs- und Operationstechniken verfasst. Seit seiner Emeritierung beschäftigt er sich u.a. mit optisch-physiologischen Einflüssen auf die visuelle Kunst.